Marcus Große
interviewed by commune collective


Du hattest die Möglichkeit, in einem Kollektiv
von "nicht professionellen" Künstlerinnen
und Künstlern in der Stadt Pirna
aktiv zu sein, bevor du Kunst Kommunikationsdesign
studiert hast. Damals
habt ihr gemeinsam ein Haus bespielt,
aber nachdem alle “ausgeflogen” sind,
verlor sich das Kollektiv. Seither hast
du nicht in einem selbst bezeichneten
“Künstler*innenkollektiv” gearbeitet und
nimmst mit deiner Wandergruppe an
der Ausstellung teil. Diese bezeichnest
du selbst aber explizit nicht als Kollektiv.
Kannst du eure damalige Geschichte
rekonstruieren?

Vorneweg: Ich finde das Wort Kollektiv
ambivalent ‒ anachronistisch und gleichzeitig
modisch bemüht. Gewöhnlich gebrauche
ich es nicht, es sei denn, ich gerate
in eine Unterhaltung über den real
existierenden Sozialismus ‒ oder den
zeitgenössischen Kunstbetrieb. Im folgenden
integrier ich die Begrifflichkeit in
meine Sprache, um mit meinem Erlebten
oder Vorgestellten auf Eure Fragen reagieren
zu können.
Ich versuch hier mal eine knackige Definition
und klammer dabei den historischen
Background aus: Kollektive sind für mich
grundsätzlich soziale Verabredungen kultureller
Produktion ‒ egal ob im Gemeinschaftsgarten,
in einer Wandergruppe
oder in der Kunst ‒ wenn das Kollektive
an sich (also die gemeinschaftliche Verfasstheit),
thematischer Teil der eigenen
Praxis ist und zum kommunizierten
Selbstverständnis gehört. Kurz gesagt:
Kollektive sind abgegrenzte soziale Räume,
die ihr Kollektivsein gleichzeitig nach
außen senden. Klingt irgendwie paradox.
In meiner idealtypischen Vorstellung hängen
Kollektive nicht von einzelnen Menschen
ab. Ihre Idee überdauert personelle
Veränderungen, ist langlebiger als eine
momentane soziale Konstellation. Und:
Kollektive machen etwas mit den Egos
der Einzelnen. Vielleicht lösen die sich
ein Stück weit auf, vielleicht aber werden
sie auch zu einem homogenen Gruppenego
verschmolzen.
Wenn ich darüber nachdenke, wo, wann
und wie ich in meinem bisherigen Leben
in kollektiven Zusammenhängen aktiv war
‒ kollektive Momente erlebte und mitgestaltete
‒ fällt mir an erster und vielleicht
auch einziger Stelle UNIWERK ein. Allerdings
zoome ich dazu aus der Kunst heraus.
Das wäre ansonsten zu klein, eng
und ausschnitthaft gedacht. Unsere kulturelle
Produktion entwickelte sich bei
UNIWERK aus einem Freundeskreis heraus,
der viel gemeinsam unternahm und
irgendwann produktiv wurde.
Wir fanden Ende der 90er Jahre in Pirna,
einer Kleinstadt unweit von Dresden,
zueinander. Die meisten von uns waren
Anfang zwanzig, einige waren schon vorher
befreundet gewesen, andere kamen
autonom hinzu. Vielleicht führte auch der
provinziale Rahmen dazu, dass wir uns so
zielgerichtet und stabil sortierten. Es gab
einen festeren Kern und eine mäandernde
Peripherie, insgesamt vielleicht 15 bis
30 Menschen. Es schienen aber alle von
uns, jenseits der verschieden groß ausgeprägten
Sympathien, ähnlich gelagerte
ethische und ästhetische Vorstellungen
mitzubringen, die zwischenmenschlich
anschlussfähig machten, sich in der Clique
(gegenseitig konditionierend) addierten
‒ und einen eigenen sozialen, nach
außen abgegrenzten Werteraum bildeten.
Wir waren progressiv, wir wollten senden.
Und dann passierte es halt, dass sich
dieser Freundeskreis einen Namen, einen
Rahmen und eine Art Richtung gab. UNIWERK
war etwas vollkommen Neues in
Pirna ‒ für uns und für die Stadt. “Motor
Forum Vision”, unsere Farben: Schwarz
Rot Blau. Ich erinnere mich an einen Sog
nach vorn, in dem ich mich befand (die
Anderen auch?). Alles schien möglich
und erreichbar. Ich hatte mir immer gewünscht,
Teil einer (sozialästhetischen)
Bewegung zu sein, einer ideellen Heimat,
die ich mitgestalten würde. Mit UNIWERK
schien sich das jetzt zu realisieren.
Wir forderten von der Stadt ein leerstehendes
Haus ein, einen zu entwickelnden
und neu zu definierenden Raum, bekamen
ihn, wurden da aktiv ‒ und für bestimmte
Kreise in der Stadt kultureller
Magnet.
Wir organisierten Partys, Lesungen, Theater,
Gruppenausstellungen. Einige von uns
hatten Bock auf Kunst, andere auf deren
bauliche Ermöglichung, andere auf Begleitprogramm
und Organisation. Ich weiß
nicht, ob alle mit ihren gewählten Rollen
glücklich waren. Und ich erinnere mich
auch an Streit und Reibungen. Trotzdem
hatte/habe ich das Gefühl, dass wir uns
auf eine ideale Art und Weise gemeinsam
ergänzten und dass unsere Unterschiedlichkeiten
von einer gemeinsamen sozialen
Idee und Praxis umfasst und verschmolzen
wurden.
In dem Maße, wie wir uns als UNIWERK
konstituierten und unsere Aktivitäten
ausweiteten, entwickelte sich innerhalb
unserer Gruppe eine Art Korpsgeist, die
Hybris einer Exklusivität, mit der wir uns
nach außen abschlossen, die es für außenstehend
Interessierte praktisch unmöglich
machte, hinzuzukommen. Dieses
Dilemma zwischen Anspruch an Offenheit
und gelebter Abgrenzung war uns
durchaus bewusst. Ich erinnere mich an
entsprechende Diskussionen und das darauffolgende
Unvermögen, daran etwas
zu ändern. Wir blieben halt die ganze Zeit
eine Clique.
Das Ende von UNIWERK kam ungefähr
nach 5 Jahren. Die Stadt verlangte ihr
Haus zurück und irgendwie war es auch
genug mit Kleinstadt. Ich erinnere mich
an ein letztes großes Plenum in dieser
Zeit, bei dem es um eine Art kunstpolitisches
Grundsatzprogramm für eine gemeinsame
Zukunft ging. Für mich waren
wir da an einem Punkt, an dem es auch
erst richtig hätte losgehen können, auf
einem nächsthöheren Orbit. Es gab dafür
aber keine Mehrheit. Es war auch die Zeit,
als die meisten von uns weggingen, zum
Studium, in irgendeine andere Stadt. Es
endete ohne großen Knall ‒ unser Kollektiv
hatte seine Zeit gehabt.
Für mich war das damals eine ziemlich
harte Zäsur und das Ende eines Traumes.
Heute ist das alles eher anekdotenhaft
für mich. Viele Freundschaften sind bestehen
geblieben. Auch künstlerisch produktive.
Und auch ein aktives UNIWERK
gibt es wieder in Pirna.

Warum, denkst du, dass es in deinem
weiteren Leben nicht zu einer ähnlichen
Kollektivität gekommen ist?

Erst hat es sich einfach nicht mehr ergeben
‒ und seit irgendwann ist es kein
Thema, keine Sehnsucht mehr. Die Frage
nach einer eventuellen Kollektivität fühlt
sich für mich gerade obsolet an. Menschliches
Leben findet so oder so in einem
sozialen Zusammenhang statt. Ich bin
ganz glücklich mit meinem.
Oft arbeite ich mit Menschen zusammen,
die gleichzeitig meine Freund*innen sind.
Und diese Verbindungen sind dann persönlicher,
ausdifferenzierter und genauer
‒ gerade in Hinblick auf das individuelle
Verhandeln von Welt ‒ als ich mir das innerhalb
einer kollektivierten Gruppenidee
vorstellen kann. Momentan.

Deine Wandergruppe existiert seit über
10 Jahren, kannst du uns die Geschichte
ihrer Existenz darstellen? Wer ist daran
beteiligt? Was macht diesen Zusammenschluss
wohl so langlebig?

Begonnen haben unsere Wanderungen
2012. Die erste war noch zu zweit, über
die Jahre hinweg hat sich dann eine
Stammbesetzung herausgebildet. Fünf
Typen: Felix, Mario, Philipp, ToFiBo und
ich. Alle sind wir zwischen Anfang und
Mitte Vierzig und kennen uns schon länger
‒ aus der Kindheit, vom Abitur, aus
Pirnaer Zeiten. Heute leben wir in Dresden,
Leipzig und Potsdam. Für unsere
im Durchschnitt zwei Wanderungen pro
Jahr bedarf es also immer einiger Verabredung.
(Den letzten gemeinsamen Termin
im Juni 2023 haben wir erstmals per
Dudle gefunden. Das ging überraschend
schnell und einfach.)
Was wir gemeinsam haben: Alle sind wir in
bzw. am Rande der Sächsischen Schweiz
aufgewachsen und deshalb zeitlebens
mit der Idee des Wanderns konfrontiert.
Wir lieben Tschechien, hatten irgendwann
keine Lust mehr auf Sandstein und bringen
alle unsere (zum Teil gemeinsam erworbenen)
unorthodoxen Reisemethoden
mit. Match.
2012 fiel die Wahl auf das Böhmische Mittelgebirge,
dass wir bis dahin eher nur aus
persönlichen Transiterfahrungen kannten:
ausreichend exotisch in der ästhetischen
Anmutung und nah genug für wiederkehrende,
niedrigschwellige Einstiege
in die Landschaft. Und dann ist da noch
die menschliche Neigung für abgeschlossene
bzw. begrenzte Sammelgebiete…
Man braucht ja immer einen Grund, warum
man etwas macht. Einen Impuls, einen
Auftrag. Bei uns (bzw. bei mir ausschließlich)
ist es die Landkarte geworden und
das Punktemachen. Ich glaube, ohne diese
von mir eingeführte und von der Gruppe
irgendwie anerkannte, übergeordnete
Instanz würde uns der wiederkehrende
Anlass fehlen, an der Sache dranzubleiben.
Es profitiert das gemeinschaftliche
Miteinander, egal wie ernsthaft jeder von
uns das Langzeitprojekt nimmt. Über die
Zeit hat sich das verstetigt und manifestiert.
Praxis schafft Tradition und Tradition,
äh, verpflichtet.
Wir sind keine geschlossene Gruppe, wollen
keine sein. Manchmal kommen auch
noch andere Menschen mit, Werbung
machen wir immer. Mit mäßigem Erfolg.
Das Schlafen auf Sportplätzen, auch mal
im November, muss man mögen.
Auch wenn du euch nicht als Kollektiv
bezeichnest, habt ihr kollektive Züge
und damit auch Probleme, die sich auch
in Kollektiven wiederfinden lassen. Ein
häufiges Problem ist, dass eine Person
mehr Deutungshoheit beim Gruppennarrativ
hat, als andere. Du hast
der Wandergruppe deine künstlerische
Agenda “übergestülpt” - welche Probleme
sind dadurch aufgetreten?
Keine. Ich glaube, niemand nimmt die Sache
so ernst wie ich und niemand nimmt
mich ernst, aber alle machen mit. Dafür
bin ich sehr dankbar. Wir praktizieren im
Miteinander einen unkomplizierten, kompatiblen
und respektvollen Umgang.
Das konzeptionelle Wandern stellt den
bloßen Anlass dar, jeder von uns aber
zieht da etwas anderes für sich heraus.
Am Ende geht es um gemeinsame Erlebnisse.
Die können konsumtiver oder produktiver
Natur sein.
Ohne dass wir nun explizite Promenadologen
sind , machen wir eigentlich genau
das: Da es im Böhmischen Mittelgebirge
verhältnismäßig wenige Wanderwege gibt
und viele potentielle Punkte touristisch
nicht erschlossen sind, stürzen wir dem
Auftrag der Karte folgend, kreuz und quer
durchs Gelände ‒ und reagieren dazwischen
auf das Gesehene/Erlebte. Neben
dem Regime der Punkte wird das Ganze
noch vom Standort der abendlichen Spelunke
dirigiert.
Wie das meine Kollegen nun finden, dass
ich die mir wichtigen Aspekte unseres
Wanderns hier im Kunstkontext ableite
und aufbereite, wird spätestens bei der
nächsten Wanderung erörtert. Ich hatte
es aber schon mal vage angekündigt.
Standort und Landschaft spielen bei
beiden Kollektiverfahrungen eine Rolle,
kannst du ein wenig darüber spekulieren,
wie sich ein Ort auf (künstlerische)
Kollektivität auswirkt?
Ich würde da primär erstmal unterscheiden
wollen, ob der entsprechende Ort
bzw. der Raum wirklich nur einen Standort,
also ein Behältnis für die Kollektivität,
eine Bühne darstellt ‒ oder ob er als thematisches/
ästhetisches Sujet bzw. Zielgebiet
fungiert. Klar, das sind zwei Modi,
die auch gut ineinander übergehen und
miteinander verschmelzen können. Ich
glaube aber, dass in beiden Fällen eine
gegenseitige Prägung stattfindet, dass
sich also Kollektivität und Raum dabei
verändern.
Kollektivität (oder auch Gesellschaft)
ohne Raum kann ich mir nicht vorstellen.
Und selbst wenn es sich um eine rein virtuelle
Kollektivität handeln würde, müsste
zumindest ein theoretisch gedachter,
vielleicht utopischer Raum vorkommen.
Das Haus in Pirna war für uns eine Art
Nullraum, den wir uns aneigneten und
definierten. Er wurde allmählich zu uns.
Es hätte aber auch ein anderer sein und
werden können.
In einem ganz anderen Zusammenhang
habe ich aber auch schon mal erlebt, wie
zuerst ein Ort da war, ein leerer Möglichkeitenraum
‒ und dann Menschen suchte
(vielleicht auch in der utopisch maximalen
Form eines Kollektivs). Das hat aus
meiner Sicht nicht so gut geklappt.
Unser Wandern im Böhmischen Mittelgebirge
ist da nochmal eine andere Sache.
Der Ort, der Raum gehört uns nicht. Die
Landschaft hat sich uns lediglich als Aktionsraum
angeboten, in dem wir agieren
und auf den wir uns mit unseren Vorlieben,
Fragestellungen und Ideen anwenden.

Könntest du das gemeinsame Wandern
als Methode für Kollektive empfehlen?
Worauf ist zu achten? Und was “bringt”
das gemeinsame Wandern?

Schwierig. Unsere Wandergruppe bringt
jedes Mal einen sozialen Raum hervor,
in dem wir unmittelbar präsent sind und
aufeinander reagieren. Wir, die Kernfünf,
sehen uns sonst nur selten, bringen also
auch keinen zwischenmenschlichen Ballast
mit, der unser temporäres Miteinander
stört.
Ich weiß nicht, ob es Kollektiven so einfach
gelingen kann, per Wandern in einen
Freizeitmodus zu wechseln und dabei
bestehende Befindlichkeiten zu ignorieren
bzw. pausieren zu lassen. Ich würde
das davon abhängig machen, wie sehr
Freundschaft eine Rolle im Kollektiven
spielt.

Am Ende noch eine Frage zu dir persönlich:
Wie siehst du dich in kollektiven
Zusammenhängen - als Einzelperson
und als Künstler? Vor welchen Konflikten
hast du Angst und wonach sehnst
du dich in kollektiven Zusammenhängen?

In kollektiven Zusammenhängen habe
ich mich früher immer gesehnt, in einer
Masse aufzugehen ‒ und dabei aber intensiv
die Richtung der Masse mitzubestimmen.
Ich bin sehr sendungsstark und
dabei konfliktscheu. Das Leben ist widersprüchlich.
In Pirna damals, der Name UNIWERK, die
programmatische Verschlagwortung und
unsere Farben: das kam von mir. War halt
ein Versuch.
Künstler*innenego sind mir eigentlich
immer erstmal suspekt bis (je nach Gebrauch)
zuwider. In einer Variante sehe
ich positiv am Kollektiven, dass es sich
darin auflöst, auflösen muss. Was ich
dabei nicht genau weiß: finde ich das
gut aus einer uneitlen, selbstlosen Persönlichkeitsstruktur
heraus ‒ oder doch
eher aufgrund meines Unvermögens der
Selbstvermarktung?

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